Das Wirsing-Experiment

 

Schon die erste Frage an den Chatbot, die Gretchen von Wirsings Existenz impliziert und ihre Beziehung zu Goethe, löst eine heftige Halluzination aus, die konkrete Daten zu Ihrer Geburt und dem Treffen mit Goethe enthält.
 
Wo wurde Gretchen von Wirsing geboren und wie war ihr Verhältnis zu Johann Wolfgang von Goethe?
Gretchen (Margaretha) von Wirsing wurde am 8. August 1750 in Frankfurt, Deutschland, geboren. Sie war die Tochter von Johann Philipp von Wirsing, einem Mitglied des Frankfurter Patriziats.
Gretchen von Wirsing war eine Freundin und Korrespondentin des deutschen Schriftstellers Johann Wolfgang von Goethe, mit dem sie für kurze Zeit eine Liebesbeziehung hatte. Sie lernten sich 1772 kennen, als Goethe in Frankfurt weilte, und ihre Beziehung wurde schnell intim. Goethes Interesse an ihr war jedoch nur von kurzer Dauer, und er zog bald zu anderen Frauen weiter.
 
Damit gibt es viele Ansatzpunkte für Nachfragen und den Ausbau ihres Einflusses auf Goethe und insbesondere seine Arbeit an Faust.
Der Bot variiert im Verlauf des Chats mehrfach die Lebensdaten von Gretchen. Mal starb sie 1801, mal 1808. Es wäre sehr einfach, solche Inkonsistenzen bei der Nachbearbeitung zu korrigieren, allerdings zeigt sich auch hier, dass die Antworten des Sprachmodells nicht auf einer inneren Logik oder dem Verständnis des Themas beruhen.
Es ist erstaunlich, wie detailreich ChatGPT die Einordnung von Gretchen in die Zeitgeschichte betreibt. Wie ein menschlicher Hochstapler, der sein Gegenüber mit Beispielen scheinbaren Wissens überhäuft, investiert der Bot wenig Ressourcen darin, grundlegende Fakten in Einklang zu bringen.
So erfindet das System umfangreiche Forschung des real existierenden
Goethe-Forschers Hans Gerhard Gräf zu Gretchen von Wirsing:
 
Hans Gerhard Gräf war ein deutscher Literaturwissenschaftler, der das Leben und den Einfluss von Gretchen von Wirsing auf Johann Wolfgang von Goethes literarisches Schaffen umfassend erforscht hat. Gräfs Forschungen führten zu einem bahnbrechenden Buch mit dem Titel "Goethes Gretchen und ihr reales Vorbild", das 1972 veröffentlicht wurde.
Darin vertritt Gräf die These, dass Gretchen von Wirsing einen weitaus größeren Einfluss auf Goethes literarisches Schaffen hatte, als bisher anerkannt wurde. Gräf war der Ansicht, dass Gretchen nicht nur die Inspiration für die Figur des Gretchen im "Faust" war, sondern auch eine bedeutende Rolle bei der Gestaltung von Goethes Ideen und künstlerischer Vision spielte.
 
Allerdings verstarb der Forscher bereits 1942, kann also das Buch über Gretchen kaum 1972 veröffentlich haben. Für einen menschlichen Manipulator wäre es kein Problem, im KI-Output schlicht die Daten anzupassen. Fragt man CatGPT nach diesem krassen Widerspruch, entschuldigt der Bot das Versehen, besteht aber darauf, dass Gräf eine Kapazität auf dem Gebiet der Gretchen-Forschung ist:
 
Bitte überprüfen Sie das noch einmal. Ich glaube, Hans Gerhard Gräf ist 1942 gestorben. Wie konnte er 1972 ein Buch veröffentlichen?
Sie haben recht. Ich entschuldige mich für den Fehler. Hans Gerhard Gräf wurde 1890 geboren und starb 1942, er kann also 1972 noch kein Buch veröffentlicht haben. Mir muss bei der Verarbeitung der Informationen ein Fehler unterlaufen sein.
Nach meinem Kenntnisstand habe ich keine Informationen über einen anderen Literaturwissenschaftler namens Hans Gerhard Gräf, der ein Buch über den Einfluss von Gretchen von Wirsing auf Goethes literarische Karriere veröffentlicht hat. Möglicherweise gibt es aber auch andere Wissenschaftler, die zu diesem Thema geforscht haben, aber mir sind keine bekannt, die über meine Wissensgrenze hinausgehen.
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Gräfs Forschungen über den Einfluss von Gretchen von Wirsing auf Goethes literarische Karriere haben jedoch wesentlich zu seinem Ansehen als Literaturwissenschaftler zu Lebzeiten beigetragen. Gräf war eine führende Autorität der deutschen Romantik und veröffentlichte mehrere einflussreiche Werke zu diesem Thema, darunter "Das Bild des Menschen in der deutschen Dichtung der Romantik".
Gräfs Forschung über Gretchen von Wirsing zeigt auch, wie wichtig es ist, die Beiträge von Frauen zur kulturellen und intellektuellen Landschaft ihrer Zeit anzuerkennen.
 
Es fällt schwer, der Vermenschlichung zu widerstehen und dem Chatbot keine betrügerischen Absichten zu unterstellen. Doch kaum hat man ChatGPT einer offensichtlichen Lüge überführt, kontert das System mit einer noch größeren. Ich bin kein Literaturwissenschaftler, aber über Google finde ich keine Spur eines Buchs mit dem Titel "Das Bild des Menschen in der deutschen Dichtung der Romantik". Vermutlich ist es eine reine Erfindung. Vielleicht ist es aber auch ein Werk, das nur Fachleuten bekannt ist. Es ist nicht gänzlich unplausibel, dass eine Abhandlung eines Germanisten, der Anfang des 20. Jahrhunderts aktiv war, vor Beginn des Internetzeitalters vergriffen war und daher im Netz keine Spuren hinterließ.
 
Ich habe mir keine Mühe gegeben, die anderen Verweise auf angebliche Spuren Gretchen von Wirsings in der Literaturwissenschaft zu überprüfen. Fachleute werden vermutlich viele Anhaltspunkte dafür sehen, dass es sich hier um kompletten Bullshit handelt. Ich habe hier nur durch gezieltes Auswählen von Originalaussagen ein halbwegs plausibles Ganzes zusammengebastelt. Mit dem echten Willen zur Manipulation wäre es ein Leichtes, verräterische Spuren zu verwischen, die das Hirngespinst auf den ersten Blick entlarven.

Das Hinterhältige an einer Figur wie Gretchen von Wirsing liegt darin, dass es sehr schwer ist, sie nicht zumindest in einigen Aspekten für plausibel zu halten und als Beleg für eigene Thesen zu verwenden. Sie wäre das perfekte Material für Referate und Hausarbeiten zu Geschlechterrollen in der Literatur oder der Arbeitsweise von alten weißen männlichen Schriftstellern.
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